Leben – wie es mit Viren geht
Herunterfahren ist einfacher als das Hochfahren. Das ist wie in der Personalpolitik, wo das Einstellen einfacher ist wie zu Entlassen. Gibt es ein weiter so, wie bisher? Oder lebt sich mit dem Virus anders?

(db finanzwelt 2020-05-05) Was wird nach den vielen Geboten und Verboten zur Eindämmung der Pandemie im Leben mit dem Virus so bleiben? Wie viel Distanz wird es noch in den Köpfen bleiben, selbst dann, wenn Restaurants, Bibliotheken, Kneipen, Museen, Vereine, Theater und Schulen wieder Schritt für Schritt zugänglich sind? Was ist mit dem Klima-Wandel? Wie viel Angst und Unsicherheit verbleibt?
Was bleibt übrig im Großraum der Städte, wenn das was verboten – oder eingeschränkt – war, was die Stadt oder Metropole doch im Kern ausmacht: die physische Gemeinschaft? Gibt es Landflucht in den sogenannten „strukturschwächeren“ Raum mit Natur und erholsamen Grün in der Umgebung?
Wenn es schlecht läuft, dann werden in den großstädtischen Zentren vor allem die Dinge bleiben, die zu jeder Stadt gehören, aber keine Stadt ausmachen. Die gigantischen Einkaufszentren, Ketten und Konzerne also, die alles bestimmen und jeden bedienen und vieles verdrängen. Sehr viele der schnell geschlossenen Kneipen, Buchläden, Cafés, Restaurants, Friseure, Sportstudios, Familienbetriebe und Einzelgeschäfte werden diese Krise wohl wirtschaftlich nicht überleben. Umsatz-Einbußen, zu hohe Mieten, zu geringe Nothilfen der öffentlichen Hand, das treibt Selbständige und Lebens-Künstler um.
Hierarchie der Sinne
In Krisen verändert sich die Hierarchie der Sinne. Ein Virus ist nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu riechen, nicht zu fühlen, nicht zu schmecken. Das Einzige, was wir da tun können, ist Distanz halten. Wir schätzen Entfernungen ab, vermeiden das Angreifen von Türschnallen und Haltegriffen.
Distanz halten, Abschätzen. Vermeiden sind die Gebote. Das sind auch Ausdrücke von Misstrauen. Man könnte es allerdings auch als neue Formen der Aufmerksamkeit betrachten. Wie viel Platz nehme ich ein? Wie viel Platz brauchen die Anderen? Was und wen berühre ich? Im Supermarkt zählt nicht mehr nur das Tempo, sondern die Sicherheit. Jeder ist plötzlich ein veränderter Mensch. Jetzt schauen viele öfter in die Augen der Menschen, was anderes lassen die Schutzmasken ja gar nicht zu.
Das Problem sind unsere Körper, die zurzeit kaum kollektiv wirken dürfen. Sie dürfen noch nicht zusammen protestieren, nicht tanzen, nicht spielen, sich auf keinen Fall berühren. Die Städte sind noch fragmentierter als sonst. Und bis alle Schutzmaßnahmen zurückgenommen werden, bis sich die mentale Distanz aufgelöst hat, kann es lange dauern. Wenn es die Sehnsucht nach Fremden in der Stadt ist, die nach Corona bleibt, dann entstünde etwas, und die Fremden-Phobie würde geringer.
Normalität oder neue Realität
Von der „neuen Normalität“ war zuletzt viel die Rede. Es gibt auch Begriffe wie „falsche Normalität“, „scheinbare Normalität“, „Semi-Normalität“, „Vor-Corona-Normalität“ und die „Nach-Corona-Normalität“. Der Begriff „Normalität“, hat durch die Pandemie jeglichen Sinn verloren. In Wahrheit war „Normalität“ nie aufschlussreicher. Was für wen und wann normal war und ist, sagt sehr viel aus. Im Ausnahmezustand treten die immer schon herrschenden Unterschiede deutlicher und sichtbar hervor. Was mühsam oder unbewusst versteckt war, wird nun klar erkennbar.
Das Zusammenleben in der Stadt wird auf der einen Seite anonymer und auf der Anderen etwas bewusster abzulaufen. Das übervorsichtige Navigieren entspricht nicht der Definition von Urbanität, weil Angst dessen Motor ist, und keineswegs die Achtsamkeit. Vielleicht bleibt die Wertschätzung gegenüber den Mitmenschen, Nachbarn und helfenden Berufen übrig, das wäre ein Krisengewinn.
Dietmar Braun, freier Fachjournalist Wirtschaft (DFJV)